Samstag, 31.08.91

Der heutige Tag ist sonnig bis bewölkt und warm. Außerdem ist auch die Fern­sicht recht gut. Auf meiner Unterlippe haben sich zwei Blasen gebildet, die mich noch bis nach Mallorca begleiten werden. Sie stören aber nur morgens beim Zähneputzen und ein bißchen beim Essen.

Valloire, das ich in guter Erinnerung behalten werde, verlasse ich um 9.40 Uhr. Die Straße aus dem Ort heraus hat bis zu 12% Steigung und führt in ein karges, baumloses Hochtal. Hier geht auch die Steigung etwas zurück.

Kurz nach dem Ortsende werden ich von einem Radfahrer eingeholt, den ich für einen Franzosen halte und ihn kurz begrüße. Heute sind viele Radfahrer und wenige Autofahrer unterwegs. Ab und zu auch mal ein paar Motorradfahrer. Nach neun Kilometern überquert die Straße die Valloirette und wendet sich um 180 Grad. Es folgt eine kurvenreiche und enge Steigung über eine Talstufe mit bis zu 12%. Darauf folgt ein weiteres Hochtal.

In einem Bauernhof kehre ich kurz ein, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Von hier aus kann man die Paßhöhe hoch oben schon erahnen. Die Steigung nimmt nun ab auf 10%. Nach einer langen Kurve halte ich erneut an und genieße die Aussicht. Hier spricht mich ein Franzose an, der mich nach meiner Fahrtroute fragt.

Nach einer weiteren Kurvengruppe erreiche ich den stillgelegten Scheiteltunnel. Hier wird die Straße dann viel schmäler und die Kurven enger. Nach einigen Minuten mit 12%iger Steigung erreiche ich die Scheitelhöhe des Col du Galibier (12.25 Uhr; Ø 8,5; 2.646 m).

Von hier aus steige ich auf den nahe gelegenen Aussichtspunkt (2.704 m) mit der Orientierungstafel. Man hat einen fast ungestörten Rundumblick. Weit im Norden blickt noch der Mont Blanc über die davor liegenden Berge. Nach Süden hin über­ragen die Berge des Massiv des Ecrins, oder auch Pelvouxmassiv genannt, alle anderen Berge. Dieses Massiv wird zu recht als der wildeste Teil der Alpen bezeichnet. Unzählige Gletscher und Spitzen sind zu erkennen. Im Südwesten erblickt man den imposanten Hängegletscher der Meije.

Auch der Bergrücken, auf dem ich stehe, hat einige Besonderheiten aufzuweisen. Die Erosion hat hier schon deutliche Spuren hinterlassen. Der Berg schillert stellenweise golden und tiefe Furchen und Einsenkungen sind zu sehen. Bisher habe ich eine solche Formation noch nicht gesehen.

Nachdem ich zu meinem Fahrrad zurückgekehrt bin, komme ich mit zwei Motorradfahrern aus Neustadt a. d. Weinstraße ins Gespräch. Sie haben die gleiche Route wie ich nach Nizza noch vor sich.

Die nun folgende Abfahrt hat auch eine Besonderheit. Nach fast 8 Kilometern des Abwärtsrollens erreiche ich den Col du Lautaret (13.15 Uhr). Diesen Paß mit 2.085 Metern kann man so im Vorbeirollen mitnehmen. Hier treffe ich nun auf die Haupt­straße, die Grenoble mit Turin verbindet. Trotzdem ist der Verkehr nicht besonders stark, was wahrscheinlich mit dem Wochentag zusammenhängt. Ich rolle nun weiter abwärts nach Briançon, der höchstgelegenen Stadt Europas (1.321 m).

Nach zügiger Fahrt erreiche ich um 14.15 Uhr Briançon. Dieser Ort gefällt mir überhaupt nicht. Eigentlich hatte ich geplant von hier aus über die Hauptstraße nach Guillestre im Süden weiter zu fahren. Diese Straße ist aber viel zu stark befahren, was dem bisher sehr schönen Tag einen jähen Abbruch bereiten würde.

So beschließe ich in Richtung des Izoardpasses weiterzufahren. Hier treffe ich auch den Radfahrer vom Morgen mit seiner Frau wieder. Als wir in Briançon auf eine steil ansteigende Straße mit viel Verkehr zufahren sagt mein Vordermann auf urbayrisch: "So'n scheiß Berg". Daraufhin sehe ich ihn ganz erstaunt an. Da beide ohne Gepäck fahren, verliere ich sie nun auf der steil ansteigenden Straße bald aus meinem Blickfeld.

Die Straße hat wiederum eine Steigung von 12%. Die eisgepanzerten Bergriesen habe ich nun vollständig hinter mir gelassen. Nach einigen Kilometer folgt eine kurze Abfahrt. Danach nimmt die Steigung wieder zu. Am Talschluß in Cervières (15.30 Uhr) lege ich in einer Gaststätte eine Rast ein. Hier sitzen auch die Radler, die ich heute schon mehrfach getroffen habe.

Wir kommen ins Gespräch. Die Gruppe setzt sich aus zwei Ehepaaren und einem kleinen Mädchen zusammen. Die nicht Rad fahrende Frau kann überhaupt nicht verstehen, wie man mit dem Fahrrad über die Alpen radeln kann. Deshalb fährt sie auch das Begleitfahrzeug. Sie kommen von Dachau und haben fast die gleiche Strecke wie ich zurückgelegt. Auch haben sie meist die gleichen Etappenziele gehabt. Sie wollen auch nach Nizza. Nur planen sie Nizza über den Cayollepaß zu erreichen, weil sie den Restefond - La Bonette schon kennen.

Nach einiger Zeit Pause starten wir dann gemeinsam zum letzten Anstieg. Nach einiger Zeit verliere ich sie dann wieder aus den Augen. Der Anstieg von Cervières ist wunderschön. Die Straße ist nicht allzu breit und wird von lichtem Kiefernwald umgeben. Die Steigung nimmt nun wieder auf 10-12% zu. Auch werden die Kurven wieder recht eng.

Nach der Kehrengruppe wird die Waldgrenze überschritten und die Richtung zur stark verwitterte Paßhöhe kann man schon erahnen. Auch hier glänzt der Berg wieder in leuchtend gelblichen bis goldenen Farbtönen, noch viel intensiver als am Galibier. Der Weg führt mich nun entlang des Refuge Napoléon, wo Napoléon auf seinem Rückweg von der Verbannung auf der Insel Elba einige Zeit ver­brach­te.

Im Norden hinter mir braut sich ein Gewitter zusammen. Ich beschleunige also mein Tempo. Nach kurzer Zeit erreiche ich den Paß (17.15 Uhr; 2.360 m). Hier oben befindet sich ein Museum, worin sich eine Ausstellung zur Geschichte der Tour de France befindet. Ich sehe mir dieses Museum kurz an um dann die Abfahrt anzutreten. Vor mir liegen ja immerhin noch 32 Kilometer.

Die Straße ist nun in einem sehr schlechten Zustand. Die Abfahrt gleicht stel­len­weise einer Slalomfahrt um die Schlaglöcher. Kurz unterhalb des Passes fährt man in die Casses Déssertes, eine Geröllwüste aus der riesige Felspyramiden, -nadeln und -klötze aufragen. Am ehesten kann man sie vielleicht mit den Erdpyra­miden bei Bozen vergleichen. Man hat den Eindruck in einer ganz unwirklichen Welt zu sein. Als Mensch kommt man sich hier ganz verloren vor.

Nach etwa 15 Kilometern wechselt meine Fahrtrichtung von Südost auf Südwest. Ich fahre nun in eine enge Schlucht hinein, die Combe du Queyras, die schein­bar nicht mehr aufhören will. Ständig geht es auf der rechten Seite senkrecht zum tiefer liegenden Flußbett nach unten und auf der linken Seite fast senk­recht nach oben. Außerdem muß ich einige Tunnel durchfahren, die teilweise un­be­leuchtet sind. Auch muß man kurze Anstiege hinnehmen. Außerdem scheint in Schluchten ganz allgemein auch ein starker Gegenwind dabei zu gehören.

Endlich erreiche ich Guillestre (1.000 m) um 18.55 Uhr. Auf Anhieb erhalte ich ein Zimmer im Chalet du Alpin, einem Hotel fast im Ortskern. Trotzdem gibt es hier viele Gärten und Bäume. Guillestre liegt auf einem Plateau, das sich leicht zur Durance hin senkt, um dann kurz vor dem Fluß steil abzufallen. Die Angestellten sprechen Englisch. Nach dem gestrigen Abend ist dies sehr angenehm, weil ich nun auch wieder weiß, was es zu essen gibt.

Mein Fahrrad kann ich in einem kleinen Schuppen abstellen, wo auch andere Radfahrer ihren fahrbaren Untersatz abgestellt haben. Nach dem Duschen gehe ich nur noch ins Restaurant im Untergeschoß, um zu Abend zu essen. Danach falle ich ziemlich müde ins Bett. Ich bin nun trotzdem am geplanten Etappenziel angekommen, obwohl ich einen Paß mehr gefahren bin als ich vorhatte.

km: 106,40
Ø 15,1 km/h
Zeit: 9:15 Stunden
ges: 800 km


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